Karola – ein Kriegskind erzählt

In diesen Julitagen ist viel von Widerstand die Rede –das Attentat Stauffenbergs auf Hitler jährt sich zum 80. Mal. Das offizielle Gedenken in diesen Tagen gilt zumeist Menschen, die zur Zeit des Nationalsozialismus privilegiert waren, dem Großbürgertum angehörten oder ranghohe Militärs waren. Viele hatten im Nationalsozialismus Karriere gemacht, hatten das Regime anfangs gar unterstützt. Ihr Gewissen entdeckten sie spät, als die militärische Niederlage Nazideutschlands sich bereits abzeichnete und bereits Millionen von Menschen in den deutschen Konzentrationslagern oder durch deutsche Militärs ums Leben gekommen waren.

Stauffenberg, Oskar Kusch, von Quirnheim, von Haeften … nicht nur sie brauchten Mut. Und nicht nur sie haben es verdient, dass ihrer gedacht wird.

Was war mit den ganz normalen Menschen, mit den Kindern, die in diesen Krieg hinein geboren wurden? Ich habe mit meiner Tante Karola gesprochen, die Schwester meiner Mutter. Karola ist das Kind einer Arbeiterfamilie. Ihre Eltern, Maria und Heinrich, sind im Nazideutschland Kommunisten,Gewerkschafter; ihr Widerstand brachte keinen Ruhm und kein Gedenken, sie waren schon vor dem Naziregime Krieg Antifaschistinnen. Nach dem Krieg lehnten sie die Wiederaufrüstung und die Bundeswehr ab. Ihre Tochter Karola war vom Krieg geprägt und traumatisiert; als Erwachsene engagierte sie sich für Frieden und Abrüstung, war in der DKP und hielt in der Hoffnung auf Frieden und Sozialismus Kontakt in die DDR. Dafür bezahlte sie mit einer langen Haftstrafe wegen Landesverrats – die Juristen, die in den 50er und 60er Jahren richteten, waren die gleichen, die auch schon schon vorher „Recht“ gesprochen hatten. Ihr möchte ich dieses bescheidene Gedenken widmen:

 

Karola wird heute, am 22. Juli 2024, 85 Jahre alt. Als sie 1939 in Remscheid, im „Roten Honsberg“, einem Viertel in dem zumeist die Familien von Arbeitern der nahen Stahlwerke lebten, zur Welt kam, hatte der Krieg noch nicht begonnen; zeichnete sich aber schon ab. Terror, Unterdrückung und die systematische Ausgrenzung jüdischer Deutscher hatten längst begonnen. Welche Erinnerungen hat die heute 85-jährige an ihre Kindheit? Was ist ihr heute noch wichtig? Ich hatte die Gelegenheit, ihr einige Fragen zu stellen:

Karola mit ihrer Mutter, Maria, ca. 1941


Obwohl ich noch klein war habe ich doch einige Erinnerungen die mich sehr geprägt haben. Von 4 Erinnerungen möchte ich erzählen.

  • Eine schlimme Erinnerung sind die schrecklichen Schreie einer Nachbarin, deren 15-jährigen Sohn – das einzige Kind – noch kurz vor Kriegsende zum Volkssturm geholt wurde, und die die Nachricht erhielt, dass er gefallen war.
  • Der Luftschutzbunker war noch lange Jahre nach dem Krieg mein Zufluchtsort, sobald draußen laute Geräusche zu hören waren. Meine Mutter wusste dann immer, wo sie mich zu suchen hatte. Eine Erinnerung aus dem Luftschutzbunker handelt von einer Nachbarin die bei einem Alarm an der rechten Hand ihre kleine Tochter Christel hatte und in der anderen einen gebackenen Kuchen. Wir Kinder bekamen ein Stück mit den Worten „Esst, esst, wer weiß ob wir hier wieder rauskommen. Ich hatte kaum einen Bissen genommen, als die Entwarnung kam und die Nachbarin mir das Stück Kuchen aus der Hand riss und meinte, wir wollen da morgen auch noch von essen.
  • Mein Vater und ein paar anderen Männer waren unter Lebensgefahr in ein Versorgungslager der Wehrmacht eingebrochen um Nahrung zu stehlen, der Hunger was sehr groß. Jeder der Männer hatte sich eine Kiste geschnappt und war nach Hause geflohen. Ich wurde wach durch ein fürchterliches Schluchzen und Weinen und die aufgeregten Worte meiner Mutter und meiner älteren Schwester. Als ich den Raum betrat saß mein Vater mit den Händen vors Gesicht geschlagen, laut schluchzend neben der gestohlenen Kiste, die nur getrocknetes Suppengrün enthielt.
  • Die letzte Erinnerung von der ich erzählen möchte ist die Geschichte eines desertierten, deutschen Soldaten den meine Eltern im Keller versteckt hatten. Als die Amerikaner nur noch ein paar Tage entfernt waren, sagte er meinen Eltern er versuche zu den Amerikanern durch zu kommen und schenkte meiner Mutter einen goldenen Siegelring als Dankeschön. Zwei Tage später fanden meine Eltern ihn ein paar Straßen weiter aufgeknüpft an einem Baum. Die SS hatte ihn doch noch erwischt.
Karola und ihre große Schwester, Margot, ca. 1945

 

Du warst 6 Jahre alt, als der Krieg zu Ende war. Wie bist Du zu Deinem eigenen politischen Engagement gekommen?

Meine Eltern waren Mitglied in der KPD. Meine Mutter war im Widerstand und Mitglied der VVN (Vereinigung der Verfolgten der Naziregimes). Dadurch habe ich viele Menschen und Schicksale kennen gelernt die mich früh erwachsen werden ließen. Die Nachbarin z.B., der der Krieg ihre 3 Söhne genommen hatte, einer von den Nazis totgeschlagen, einer im KZ gestorben und der dritte, der als schwer kranker Mensch aus dem KZ noch in irgendein Volksturm Bataillon gesteckt wurde und nicht mehr lange nach dem Krieg weiter lebte.

 

Nach Kriegsende im Garten

Gibt es Personen, die Dich besonders geprägt haben?

Eigentlich kann ich das gar nicht an einer einzelnen Person ausmachen.  Meine Mutter, ganz klar, durch ihren Widerstand und die Risiken, die sie im Krieg eingegangen ist. Die Gemeinschaft bei den Ostermärschen in den frühen 60er Jahren. Die große Zahl der Menschen,  die auf der Straße waren. Bei einem Sternmarsch waren am Ende 300.000 Menschen in Dortmund aus vielen verschiedenen Organisationen. Ob christliche Organisationen, die Naturfreunde, der ganz normale Nachbar von nebenan, sie alle gingen für ein Ziel auf die Straße: Frieden

Karolas Mutter (links) auf einem Protestmarsch gegen Aufrüstung; ca. 1960

Kommunist*innen wurden auch nach der Nazi-Herrschaft noch verfolgt. Warum war die SPD keine Option für Dich?

Meine Eltern waren schon Mitglied in der KPD, also wurde ich später Mitglied der DKP. Beide Parteien haben während der Weimarer Republik viele Fehler gemacht. Hätte man da besser zusammengehalten, hätte man Hitler vielleicht verhindern können.

Karola (rechts) mit Freundin – einer der ersten Ostermärsche

Hast du irgendwann geglaubt, dass der Faschismus besiegt ist?

Nein, ich habe nie geglaubt, dass der Faschismus besiegt wäre. Das Gedankengut ist immer noch in vielen Menschen präsent, und wer aus den Fehlern der Vergangenheit nichts lernt, ist verurteilt, sie zu wiederholen.

Wie empfindest Du die Erfolge der AfD?

Die Erfolge der AFD machen mich fassungslos und traurig und wütend. Haben die Menschen keinen Verstand? Keine Geschichtskenntnisse? Das ist doch keine tausende von Jahren her. Ist denn nach 80 Jahren alles bereits vergessen? Ich habe mein Leben lang das Grauen davor nicht verloren.

Warum ist die AfD im Osten so viel erfolgreicher als im Westen?

Vielleicht fühlen sich die Menschen betrogen. Es wurde ihnen viel versprochen. Links taugte nichts, der Kapitalismus hielt seine Versprechen nicht, und die von rechts versprechen so viel, dabei überhört man gerne die Zwischentöne, die die wirkliche Fratze dahinter zeigen.

Was müssen Politik und Gesellschaft tun?

Die Politiker müssen ehrlicher werden und keine Wendehälse sein, die sobald ein Posten winkt, das Geschwätz von gestern nicht mehr interessiert. Die Gesellschaft muss aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen, Flagge zeigen, auf die Straße gehen, sich politisch interessieren, sich bilden, Und die Großmütter, die als Kinder den Krieg noch miterlebt haben müssen ihr Wissen an die Jugend weitergeben. Bald wird unsere Generation nicht mehr da sein, aber das Gedächtnis muss weiter bestehen. Die heutige Generation trifft keine Schuld an dem was war, es trifft sie aber eine Schuld an dem was sein wird, wenn sie sich nicht besinnen. Die heutigen Demonstrationen machen mir Mut. Leider kann ich nicht mehr mitmarschieren.

Was wünschst Du den jungen Leuten heute?

Dass sie ein ruhiges, sicheres Leben führen kann, ohne Bomben und ohne die Angst vor einem Krieg