Schuld

Die beiden heutigen Texte aus der Tonspur befassen sich beide mit der Frage der Schuld – zum einen die Mahnung, dass es nicht „die Russen“ sind, die Krieg führen; zum anderen die Frage, wie es möglich ist, mit Schuld umzugehen, welche die eigene Familie auf sich geladen ha:

Uta aus Hannover:

Mein Vater wurde als Jugendlicher in den Krieg geschickt und schwer verletzt. Er floh aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft in Sibirien. Russische Bäuerinnen haben sein Leben gerettet. Ohne ihre Hilfe wäre er gestorben.Er war ihnen sein ganzes Leben dankbar und brachte uns bei, dass nicht alle Feinde Feinde sind, dass man differenziert hinschauen muss und Völkerverständigung die Basis für Frieden ist. Er hörte sich oft seine Platten mit russischer Musik an und tanzte dazu.

Als er jung starb, gingen wir noch zur Schule oder studierten. Die Musik höre ich noch immer. Und der Krieg gegen die Ukraine ist eine Völkerrechtsverletzung und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. So sehen das auch meine russischen Nachbarn.

Claudia aus München:

Das Ende des 2. Weltkriegs vor 77 Jahren lässt mich vor allem an die russischen Kinder und Teenager denken, deren Väter aufgestachelt wurden, die Massaker in der Ukraine zu begehen. Wie sollen sie später einmal ihren Vätern in die Augen sehen, wenn sie eine eigene Einstellung zu Macht, Gewalt und Unrecht haben?

Mich verfolgte mindestens 50 Jahre lang ein Schnappschuss, der meinen Vater im August 1940 in einem Lazarett zeigt, wie er im Schlafanzug mit einem Gefreiten Mayr Mühle spielt.

Ich bin inzwischen 71 Jahre alt und Großmutter von acht Enkelkindern. Mein Vater, ein sehr charmanter, erfolgreicher und lebenslustiger Mann starb, als ich ein Jahr alt war. Meine Mutter konnte mir nichts über sein Leben im Krieg erzählen. Mit zwanzig ging ich nach Israel, um in einem Kibbuz zu arbeiten, weil ich es für möglich hielt, dass er am Holocaust beteiligt war. Die Familie meiner Mutter war vermögend geworden, weil sie im Krieg Autobahnen und Flugplätze baute…

Vor kurzem fand ich in einer seiner Veröffentlichungen einen Lebenslauf.

Wehrdienst: 1. April 1936 bis 1. Oktober 1936 Reichsarbeitsdienst. 1. April 1940 bis 6. November 1941 Nachrichtenersatzabteilung 5.

Davor und danach Assistent im Flusslaboratorium der Technischen Hochschule Karlsruhe, wo er sich später auch habilitierte.

Mir rollte ein schwerer Stein vom Herzen! Mein Vater hatte offenbar weder an Deportationen noch an Hinrichtungen teilgenommen. Er war verschont geblieben.

Was wenn nicht? Ich glaube nicht, dass Unrecht aus der Welt ist, nur weil die Akteure sterben. Wie wird es den russischen Kindern später gehen?

 

Texte zum Krieg

Am 8.Mai hat das Deutschland-Bündnis der OMAS GEGEN RECHTS ein Video auf der Plattform YouTube veröffentlicht. Einige dieser Texte möchten wir in den nächsten Tagen hier veröffentlichen. Wir fangen an mit:

OMA Gertraud aus Gießen

Ich denke an die Kinder – ich denke an meine Angst, die ich hatte, als ich Kind war.

Fliegeralarm

Die Sirenen heulen, mehrmals hintereinander. Eile ist angesagt. Schnell greifen wir nach den aus Trainingsjacken genähten Rucksäckchen und hasten an den Händen meiner Mutter – rechts mein Bruder, ich links – wie andere Menschen zu dem vermeintlich sicheren Ort: dem Luftschutzbunker. Mutti ist schwanger, wir kuscheln uns eng aneinander, an ihren Babybauch, halten uns krampfhaft fest und warten. Mutti meint: „Wir bleiben immer eng zusammen, denn wenn was passiert, dann sterben wir alle zusammen, schlimm wäre es, wenn nur einer übrig bleibt.“ So harren wir über Stunden aus, bis Entwarnung kommt. Wir verlassen den dunklen, stickigen Raum mit der bangen Frage: „Steht unser Haus noch?“

Heute habe ich wieder Angst vor dem Krieg. Ich verstehe auch nicht, warum Menschen und Völker untereinander nicht in Frieden leben können. Doch was ich verstehe, dass es für die Aggressoren einfach ist einen Krieg zu entfachen, denn nicht sie sterben, sondern wir, du und ich und die Soldaten und all die Unschuldigen, die werden geopfert!!!!!

 

Marion F. aus Kiel:

Hören Sie es manchmal auch? In Ihren Träumen? Wenn Sie allein sind, und alles ist still? Ich höre es manchmal, und das seit langer Zeit. Meine Großmutter hat mir davon erzählt. Ich muss 9 oder 10 Jahre alt gewesen sein; der letzte große Krieg in Europa war gerade 19 Jahre vorbei, und es gab noch Trümmergrundstücke mit Birken, die aus den Mauerresten wuchsen, und Schuttberge, auf denen wir Kinder spielten.

Meine Großmutter erzählte, wie die Frauen in ihrer Straße in der kleinen Industriestadt im Westen Deutschlands ängstlich aus den Fenstern schauten, wenn ein Auto der Feldjäger in die Straße mit den großen Mietshäusern bog. Ihre Angst war die gleiche und dennoch anders, denn sie hatte nur zwei Töchter. Es war schwer, die durch den Krieg zu bringen. Wenn es mal Kartoffeln gab, behielt sie für sich selbst nur die Schalen, damit die Mädchen etwas zu essen bekamen.

Aber, wenn das Auto der Feldjäger in die Straße kam, wusste sie, dass sie ihn hören würde, denn sie wusste, warum die Soldaten in das große Haus mit den kleinen Wohnungen gingen, an einer Wohnungstür Halt machten und klingelten. Die Tür öffnete sich, ein ängstliches Frauengesicht erschien, die Hände hielten sich krampfhaft an der Schürze fest, und während noch die Worte „Führer“ und „Vaterland“ in der Luft schwebten, war er da: Der alles übertönende, alles durchdringende Schrei einer Mutter, deren Sohn gefallen war, einer Frau, der ihr Mann und Vater ihrer Kinder genommen worden war. Ein Schrei, der durch die Straße schallte und all die Frauen hinter ihren Fenstern daran gemahnte, was ihr Schicksal sein konnte.

Ich lebe schon lange, und es ist kein Jahr, kein Monat, keine Woche vergangen, in der dieser Schrei nicht irgendwo ertönt ist, und, wenn Sie ihn hören, werden Sie es auch merken: Es ist der Schrei einer Frau. Und dieser Schrei klingt immer gleich – Sie werden niemals herausfinden, ob eine Frau in Afrika schreit, oder in Israel, in Südamerika, in Indien, in Kanada oder den USA. Und auch heute werden Sie nicht unterscheiden können, ob eine Russin oder eine Ukrainerin schreit, denn der Schmerz, aus dem dieser Schrei kommt, ist immer der Gleiche: Es ist der Schmerz über ein sinnlos vergeudetes Leben, über das Ende von Hoffnungen und Träumen.

Feinde sind nicht die jungen Männer und Frauen, die geopfert werden. Feinde sind die, die sie zum Kämpfen zwingen, die die Waffen bauen, mit denen sie die anderen töten. Und wir, die wir den Schreien hilflos lauschen, haben einen einzigen Feind zu besiegen: Den Krieg.

 

8. Mai – Tag der Befreiung

OMAS GEGEN RECHTS aus ganz Deutschland haben zum 8. Mai – dem Jahrestag der Befreiung vom Hitler-Faschismus – ihre Gedanken zum Krieg aufgeschrieben und vorgelesen. Nachhören könnt Ihr hier:

https://www.youtube.com/watch?v=JpFJcBYSuuE

Die Texte werden in dieser Woche nach und nach veröffentlicht; beginnen wollen wir mit dem Prolog von Marion aus Kiel:

Ein Ungeheuer, das wir alle, wenn nicht tot, so doch weit weg glaubten, hat seinen Kopf gehoben und fixiert uns mit glühenden Augen. Der Krieg ist zurück, er drängt sich in unser Bewusstsein, in unsere Gespräche, in unsere Träume. Er macht uns Angst, er zeigt uns, wie zerbrechlich all unsere Gewissheiten sind. Die meisten von uns OMAS GEGEN RECHTS sind zu jung, um den 2. Weltkrieg bewusst erlebt zu haben. Aber die Folgen des Krieges, die Zerstörungen, die er hinterlassen hat, die haben wir ganz unmittelbar erlebt: Das waren nicht nur die Reste von Ruinen oder Schuttberge. Es waren die Zerstörungen in den Seelen der Erwachsenen. Der Vater, der oft Albträume hatte, aber nie über seine Erlebnisse als Soldat gesprochen hat, die Mutter, die bei jedem lauten Geräusch anfing zu zittern. Das Bild eines jungen Mannes auf der Kommode – der Onkel, den wir nicht kennenlernen konnten. Die Nachbarin, die, als alte Jungfer bezeichnet, ein einsames Leben lebte, weil ihr Verlobter nicht aus dem Krieg zurück kam. Die Menschen, die ihre Liebsten im Holocaust verloren hatten und fassungslos zuschauten, wie schnell alles in Deutschland vergessen werden sollte. Das hat uns geprägt, und heute wissen wir, was dieser Krieg, den Russland der Ukraine aufgezwungen hat, bedeutet. All die Diskussionen über Panzer, über Kaliber und Reichweiten von Raketen können uns nicht darüber hinweg täuschen, dass all die Verwüstungen, die der 2. Weltkrieg hinterlassen hat, auch genau die sein werden, die dieser Krieg hinterlässt.

Viele von uns haben sich die Mühe gemacht, ihre Gedanken zum Krieg aufzuschreiben und für eine Tonspur aufzunehmen. Viele von uns werden sich in diesen Texten wiederfinden.

Der 8. Mai ist ein besonderes Datum: 1945 kapitulierte das faschistische Deutschland vor der alliierten Übermacht. Krieg hatte Millionen von Leben gekostet, hatten Länder, Städte, Leben zerstört. Dazu kamen noch die Millionen von Menschen, die Opfer der faschistischen Gewaltherrschaft wurden. Ein Datum, daran zu erinnern, was Krieg wirklich bedeutet, und warum der Faschismus niemals wieder Macht haben darf.

Aktionswoche zu rechten Bedrohungen und Einschüchterungsversuchen

Der Asta bat uns, im Rahmen eines Projekts des Referats für Politische Bildung, AStA der Universität Kiel drei Fragen zu faschistischer Bedrohung zu beantworten. So sehen unsere Antworten aus:

1. Wie hat sich das Leben der Betroffenen verändert / Was sind deine Umgangsstrategien?

Eine rechte Bedrohung ist für jede/n erstmal ein Schock, auch dann, wenn sie natürlich bereits von anderen Bedrohungen gehört hat. Je nach Art der Bedrohung ist dies zudem ein Eingriff in die Privatsphäre der Betroffenen. Dies hat Verunsicherung und Angst zur Folge.
Die Konsequenz daraus darf keineswegs sein, sich zurückzuziehen. Sprich darüber, geh an die Öffentlichkeit, informiere Freundinnen und Freunde, Nachbarinnen und Nachbarn, Verwandte etc.
Wende dich an die Initiative zebra – Zentrum für Betroffene rechter Angriffe e.V. Kleiner Kuhberg 2-6 Kiel! Nimm dort die Beratung in Anspruch. Dies dient darüber hinaus zur Erfassung rechter Straftaten in Schleswig-Holstein. https://www.zebraev.de/beratungsangebot/
Liegt eine rechte Straftat vor, ist es zudem gut, sich an die Polizei zu wenden. Im Zweifelsfall kann es richtig sein, einen Rechtsanwalt einzuschalten.

2. Was wünschen sich Betroffene / Welchen Umgang mit dem Thema Rechte Bedrohungen und Einschüchterungsversuche wünschen Sie sich in Zukunft?

Konsequentere Verfolgung rechter Straftaten, öffentliche Ächtung (bzw. Verbot) faschistischer Organisationen, kein Raum für solche Organisationen in den Medien. AfD raus aus den Parlamenten.

3. Was kann man tun / Was kann jeder Einzelne Ihrer Meinung nach tun, um solchen Ereignissen vorzubeugen und zu unterstützen?

Jede/r kann für ein friedliches und solidarisches Zusammenleben eintreten und bei jeder Gelegenheit oder bei Gesprächen gegen rassistischen, ausgrenzenden, demokratiefeindlichen Äußerungen oder Handlungen sich positionieren. Darüber hinaus kann jede/r sich Organisationen anschließen, die im weitesten Sinne der Antifa angehören, oder diese durch Aufrufe, Spenden etc. unterstützen.